Pharmaforscher auf der Suche nach neuen
Wirkstoffen
Molekül-Design am PC führt schneller zum
Erfolg
Von HANS-JÜRGEN BITTERMANN
Pharmaforscher suchen fieberhaft nach neuen
Wirkstoffen für Arzneimittel. Weil viele Patente auslaufen, müssen schnellstmöglich
neue Medikamente entwickelt werden. Dabei setzen die Firmen zunehmend auf das
Molekül-Design am Computer.
HANDELSBLATT, Dienstag, 21. September 1999
HB FRANKFURT. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan und der Box-Champion Cassius
Clay sind von schwerer Krankheit gezeichnet, und auch dem Pop-Idol Freddy Mercury konnte
die Medizin nicht helfen: Alzheimer, Parkinson und Aids drei Beispiele aus der
großen Zahl von Krankheiten, die bislang nicht oder zumindest nur sehr schlecht
therapierbar sind. Selbst eine ganz gewöhnliche Katzen-Allergie kann den Arzt noch immer
vor ein unlösbares Problem stellen. Zwar können diese Krankheiten früher
diagnostiziert, die Symptome gelindert werden, von einer Heilung ist man jedoch weit
entfernt.
Weltweit arbeiten die Pharmafirmen daher unter Hochdruck an der Entwicklung neuer
Medikamente. Im Mittelpunkt der Suche stehen pharmazeutische Wirkstoffe, die meist nur als
Promilleanteil in der Pille oder in der Injektionslösung enthalten sind, jedoch die
lebensrettende Basis einer Arznei bilden. Dabei gleicht die Jagd nach einem Erfolg
versprechenden Wirkstoff der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Denn je
größer die Erfolge der Synthesechemiker mit der kombinatorischen Chemie sind (das ist
die simultane, multiple Synthese von organischen Verbindungen) und je mehr Naturstoffe aus
Pflanzen und Pilzen extrahiert werden, desto größer wird der Heuhaufen, in
dem die wenigen potenziellen Kandidaten für das neue Medikament gefunden werden müssen.
Experten schätzen, dass sich bereits jetzt in den weltweiten Substanzbibliotheken
insgesamt mehr als zehn Millionen einzelne Substanzen befinden, die es zu untersuchen
gilt. Und diese Suche ist nicht nur langwierig, sie ist auch kostspielig. Rund zehn Jahre
ziehen durchschnittlich ins Land, bis ein Medikament endlich auf dem Markt ist. Während
dessen verschlingt die Entwicklung eines einzigen Medikamentes vom Beginn der
Wirkstoffsuche bis zur Zulassung auf dem Markt durchschnittlich 350 Millionen US-Dollar.
Ausgangspunkt der pharmazeutischen Wirkstoffentwicklung ist die Suche nach chemischen
Verbindungen, die eine geeignete Wechselwirkung mit einem krankheitsverursachenden
Zielmolekül (Target) aufweisen. Die Spezifität derartiger Wechselwirkungen wird mit der
Kombination von Schlüssel und Schloss verglichen. Bildlich gesprochen handelt es sich
also um die Aufgabe, zu einem bekannten Schloss (Target) den besten Schlüssel (Wirkstoff)
zu finden.
In den meisten Fällen geschieht dies immer noch durch einfaches Ausprobieren (trial
and error Versuch und Irrtum) im biochemischen Assay. Beim klassischen Screening,
darunter versteht man das systematische Durchsuchen von Substanzbibliotheken nach
hoffnungsvollen Stoffen, ist die Treffer- und Erfolgsquote allerdings so gering, dass
immer leistungsfähigere Geräte entwickelt werden derzeit liegt das Optimum bei
bis zu 100 000 Tests pro Tag.
Ein anderer, hoffnungsvoller Weg zur Entwicklung therapeutisch wirksamer Biomoleküle
ist der Einsatz intelligenter Rechner gestützter Verfahren. Möglich wurde dieser Weg
dadurch, dass immer detailliertere Kenntnisse über pharmakologische Reaktionen im
Organismus vorliegen. Die dreidimensionale Struktur wirksamer Biomoleküle ist
identifiziert und mit Hilfe der Computergrafik darstellbar. Seit Mitte der achtziger Jahre
lassen sich auf diesem Weg neue Wirkstoffe am Bildschirm modellieren.
Das sogenannt Drug Design ist inzwischen ein fester Bestandteil der
Arzneimittelforschung. Auch dabei gilt das beschriebene Schlüssel- Schloss-Prinzip: Die
Struktur des Wirkstoffes wird auf dem Bildschirm an die Struktur des Zielmoleküls
möglichst exakt angepasst. Dass dies keine reine Theorie mehr ist, zeigt ein von der EU
gefördertes Dechema-Projekt. Dabei wurden drei Applikationen von unterschiedlichen
industriellen Partnern evaluiert und zur Lösung aktueller Problemstellungen bei der Merck
KGaA, der Lipha Group S.A. und der Böhringer Ingelheim Pharma KG eingesetzt. Die
Ergebnisse zeigen, dass mit der Strukturvorhersage von Proteinen äußerst wirkungsvolle
und Kosten senkende Alternativen zu den traditionellen Methoden in der pharmazeutischen
Industrie zur Verfügung stehen.
Eine eigenständige Entwicklung hat die kanadische Dope.de
Inc., Guelph, Ontario/Kanada, vorzuweisen. Die 21 Spezialisten des Unternehmens
konzentrieren sich allein auf das Wirkstoff-Design, eine Vermarktung ist schon aus
Gründen der Ressourcen ausgeschlossen: We discover drugs we do not develop
them, so Dr. Laurence Russ, President & CEO. Das Herzstück des Unternehmens ist
die patentierte Evolutionary Molecular Design (EMD)- Technologie auf der
Grundlage der theoretischen Chemie und der künstlichen Intelligenz. Laurence Russ:
EMD ist ein Computer gestütztes Werkzeug für das Wirkstoff-Design. Es ermöglicht
die Entwicklung neuer Wirkstoffe mit einer spezifischen biologischen Aktivität und
vorausbestimmten physikalischen und chemischen Eigenschaften. Kern der EMD-Methode
ist ein virtueller Rezeptor, der die rein Computer basierte (mathematische) Mimik eines
biologischen Rezeptors darstellt. Was aber ist ein Rezeptor? Es ist dies die
für spezifische Reize empfindliche Empfangseinrichtung einer Zelle oder eines
Organs bzw. Systems. Es handelt sich dabei um Proteinmoleküle, die sich meist auf der
Oberfläche von Zellen oder am Zellkern selbst befinden und auf natürliche, körpereigene
Botenstoffe wie Hormone ansprechen und weitere biologische Vorgänge an oder in der Zelle
bewirken.
Die Pharmaforschung sucht nun Substanzen, die sich hochspezifisch an solche Rezeptoren
anlagern oder diese blockieren. Dem liegt die Arbeitshypothese zu Grunde, dass die
Entwicklung eines kausal wirkenden Medikaments die Kenntnis des Rezeptors und des
bindenden Proteins voraussetzt. Den virtuellen Rezeptor erhält Dope.de
nun auf der Basis von strukturellen und biologischen Daten von Molekülen mit bekannter
Aktivität gegenüber biologischen Rezeptoren. Das heisst, man geht bereits von
Molekülstrukturen aus, die von vornherein eine gute Problemlösung versprechen und
weil die unternehmenseigene Struktur-Datenbank schon jetzt mehr als 600 000 Reagenzien
umfasst, sind aussichtsreiche Strukturen relativ rasch identifiziert.
Solche potenziellen Wirkstoffe werden dann am virtuellen Rezeptor getestet und können
auch modifiziert werden. Wohlgemerkt: Alles findet im Computer statt! Das Resultat sind
Wirkstoff-Kandidaten mit optimierter Bio-Verfügbarkeit, deren Möglichkeit zur
tatsächlichen Synthese überprüft wurden und die auch von der Toxikologie her
einwandfrei sind.
Laurence Russ: Im Unterschied zu den Methoden anderer Firmen stellt unser
Rezeptor ein funktionelles Modell dar, andere nutzen praktisch immer nur strukturelle
Modelle. Ein viel versprechender Ansatz, der gewiss nicht kurzfristig das
herkömmliche Screening ersetzen wird. Aber je besser die unternehmenseigene Datenbank
wird, desto häufiger wird man das Molekül-Design tatsächlich in den Computer verlagern
können.
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